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Anlaufstelle, für Männer* und TIN*, die in Kindheit, Jugend oder als Erwachsene sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren

© 2015 Tauwetter e.V.

Die folgenden Anregungen sollen Möglichkeiten aufzeigen, wie mit Hindernissen und Schwierigkeiten umgegangen werden kann, die ich für mich, aber auch die Gruppe als Ganzes in der gemeinsamen Selbsthilfearbeit haben können. Eventuell haben andere aus der Gruppe schon Erfahrungen mit ähnlichen Situationen gemacht und dabei Lösungsideen entwickelt. Es lohnt sich deshalb immer, Probleme offen anzusprechen, zu fragen, was die anderen dazu für Ideen haben und zu prüfen, ob die auch für diese Situation anwendbar und erfolgversprechend sind.

Kopf und Bauch, Verstand und Gefühl

Um heute halbwegs zufriedenstellend leben zu können, aber auch um erfolgreich meine Geschichte bearbeiten zu können, muss ich mich und meine Geschichte in ihren verschiedenen Facetten kennen. Dazu gehören auch meine Gefühle. Gefühle sind so etwas wie eine erste schnelle Einschätzung, die ermöglicht, auch ohne lange zu überlegen, zu reagieren. Wir haben allgemeine Einschätzungen und Annahmen aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen und diese fließen in die Gefühle ein, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Gefühle sind keine absolute Wahrheit, wir können uns täuschen, aber sie sind ein guter erster Hinweis aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen. Wenn ich aber heftig von meinen Gefühlen getäuscht worden bin (z.B. wenn ich jemanden vertraut habe, der oder die gegen mich sexualisierte Gewalt angewendet hat) kann es passieren, dass in Zukunft genau dieses Gefühl, jemand wird mir vertraut, für mich ein Alarmzeichen wird. Wenn ich erleben musste, dass (z.B. während eines Übergriffs) meine Gefühle so heftig waren, dass sie mich überwältigt haben, dass ich nur noch wie gelähmt und handlungsunfähig war, dann kann es passieren, dass ich in Zukunft versuche meine Gefühle weniger stark zu spüren. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie als Auswirkung der sexualisierten Gewalt mein Zugang zu meinen Gefühlen erschwert sein kann. Oft kommen dann auch noch Erwartungen, wie ich als Junge* bzw. Mann* zu sein habe dazu. Es gibt sozusagen für Männer* verbotene Gefühle wie Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Traurigkeit, die oft als „schwache" Gefühle gelten. Der aus solchen Erfahrungen entstehende Umgang mit den eigenen Gefühlen ist meist keine bewusste Entscheidung, aber ich kann sie mir bewusst machen und dann versuchen etwas zu ändern.

Es ist für eine Bearbeitung oft hilfreich wieder einen besseren Zugang zu meinen Gefühlen zu bekommen und mich zu erinnern, wie ich mich damals gefühlt habe. Erst dann kann ich mir angucken, wo ich eventuell Schlussfolgerungen gezogen habe, die mir heute nicht mehr brauchbar erscheinen. Und als Drittes kann ich dann versuchen, anders zu handeln. Auf diesem Weg kann ich mich von den Folgen der Gewalt schrittweise befreien. Wichtig ist dabei immer wieder zu überlegen, was ich heute alles anders machen kann, damit ich nicht in der alten Einschätzung, ich kann nichts machen/ändern, und dem Gefühl der Ohnmacht, hängen bleibe und schlussfolgere, ich werde immer Opfer sein.

Wenn in der Gruppe über Gefühle gesprochen wird, erleben immer wieder Männer* und manchmal auch TIN* das als zu verkopft, zu abstrakt oder analytisch. Sie haben den Eindruck, es wird mehr über Gefühle gesprochen, als sie zu empfinden oder den anderen zu zeigen. Für einige ist die Angst, dass einen die eigenen Gefühle überwältigen könnten oder dass sie vor den Anderen schutzlos dastehen könnten, manchmal sehr groß. Andere sind darauf getrimmt worden, ein sehr feines Gespür für die Gefühlslage anderer zu entwickeln, aber haben kaum ein Gespür für die eigenen Gefühle.

Für die eigene Weiterentwicklung in der Selbsthilfegruppe haben sich drei Fragen als sehr hilfreich herausgebildet:

1. Wie geht es mir?

Am Anfang steht die Frage: Wie geht es mir gerade - hier und in diesem Augenblick? Dafür kann ich schon den Anfangsblitz nutzen, aber es lohnt sich auch mir die Frage ruhig häufiger während des Gruppenabends zu stellen. Wichtig dabei ist, alle spontan empfundenen Gefühle, die sich bemerkbar machen, ernst zu nehmen. Das heißt, sie zum Beispiel nicht nach einer inneren Rangliste abzuwerten und zu zensieren. Eine sich in mir breit machende Langeweile, eine Verwirrung oder eine tiefe Müdigkeit haben dieselbe Aufmerksamkeit verdient, wie 'klarere' Gefühle wie Wut, Freude, Trauer, Angst usw.

Oft finden Gefühle nicht den Weg ins Bewusstsein, so dass ich sie benennen oder aussprechen könnte. Manchmal hilft es dann eine Pause einzulegen und zu versuchen zur Ruhe zu kommen. Gesprächspausen bieten sich dafür geradezu an, aber auch während andere weiter reden, kann ich mich kurz „ausklinken" und in mich hineinhorchen. Meist ist es hilfreicher auf das, was an leisen Dingen kommt, zu lauschen, als hektisch danach zu Fahnden und zu Suchen.

Manchmal kann ich auch feststellen, wie es mir geht, wenn ich auf meinen Körper achte: „Wie atme ich? Halte ich den Atem an? Sitze ich verspannt auf meinem Stuhl? Schnürt es mir gerade die Kehle zu? Werde ich unruhig? Da ist so ein unangenehmer Druck im Bauch! Meine Füße werden kalt! Es schüttelt mich innerlich! Krieg' ich schon wieder Kopfschmerzen?" Viele kennen ja körperliche Reaktionen, die sie immer wieder "heimsuchen", wenn die Situation überfordernd oder bedrohlich wird. Aber andere körperliche Empfindungen und Signale sind im Lauf der Jahre schon so vertraut geworden, dass sie kaum noch wahrgenommen werden. Hier kann es helfen, meinen Körper gleichsam 'systematisch' von oben nach unten durch zu gehen und ohne Bewertung erst einmal möglichst viel zu bemerken.

Gefühle und Körperreaktionen wahrzunehmen bedeutet nicht, sie sofort deuten und erklären zu müssen. Das kann später kommen. Erst einmal geht es darum, sie wahrzunehmen und ihnen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dies kann auch ein Teil einer Wiederaneignung des eigenen Selbst sein, denn Viele haben erleben müssen, dass ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse ignoriert und missachtet wurden. Sie wurden ihnen regelrecht abgesprochen. Jetzt wieder ein ganzer Mensch mit eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen zu werden, ist das Ziel und dazu gehört auch, sich wieder zu spüren.

In einem nächsten Schritt, bei dem der Austausch mit den Anderen in der Gruppe hilfreich ist, versuche ich meine Wahrnehmungen, meine Gefühle, mein Körpererleben zu verstehen und zu reflektieren, was ich an meiner Situation verändern kann.

2. Was hat das Gehörte bei mir ausgelöst?

Da wir in der Gruppe nicht alleine sind, hat das, was die Anderen erzählen, natürlich einen Einfluss auf mich und meine Gefühle. Wenn eine andere Person von sich erzählt, kann ich darauf achten, was deren Geschichte bei mir auslöst: Macht mich das Gehörte traurig? Wütend? Hilflos? Oder berührt es mich überhaupt nicht? Spüre ich Impulse, sofort eingreifen und helfen zu müssen? Werde ich plötzlich müde, kann nicht mehr zuhören oder bekomme Kopfschmerzen?

Dabei geht es erst einmal nicht darum, den Anderen eine direkte Rückmeldung geben zu können (dazu kommen wir später), sondern im Vordergrund steht, auf sich selber zu schauen: Was kenne ich z.B. von dem, was gerade erzählt wurde selber? Wie reagiere ich, wenn ich so etwas höre? Woran erinnert mich meine Reaktion?

Vor allem, wenn ich starke Impulse und Gefühle bemerke, ist es wichtig kurz inne zu halten und in mich hinein zu horchen, was bei mir los ist. Ich erfahre so mehr über mich selber, aber ich lerne auch zu trennen, zwischen meiner Geschichte und dem, was jemand anders erzählt. Es kann sein, dass meine Gefühle ganz anders sind, als die der anderen Person – das bedeutet nicht, dass eine*r von uns „falsche Gefühle" hat. Manche, die z.B. in einer engen, nahen Beziehung oder als sehr kleines Kind sexualisierte Gewalt erlebt haben, haben Probleme zwischen den eigenen Gefühlen und denen von anderen zu unterscheiden. Dies gibt es auch, wenn jemand lernen musste nur auf die Empfindungen der Andern zu achten. In solchen Situationen kann es hilfreich sein, Aufmerksamkeit zu investieren, um zu spüren, was ist mein Gefühl, was löst die andere Person bei mir aus und was sagt die andere Person eigentlich, wie sie sich selber fühlt.

3. Wie nehme ich die andere Person wahr?

Nun findet in einer Selbsthilfegruppe ein konkretes Zusammentreffen von Männern* und/oder TIN* statt. Dabei haben natürlich auch das Auftreten, die Art des Erzählens, der körperliche Ausdruck usw. der anderen Personen Einfluss auf mich und meine Gefühle. Dies ist also meine nächste Frage: Wie erlebe ich die andere Person? Kenne ich die Art wie sie spricht? Erinnert die mich an jemand? Bei dieser Art der Fragen bin ich immer noch sehr dicht bei meiner eigenen Geschichte. Ich kann an diesem Punkt aber auch den Aufmerksamkeitsfokus mehr zur anderen Person verlagern. Stimmen Körpersprache oder die Art, wie sie redet mit dem Inhalt überein? Manchmal erzählt jemand von schwerer Gewalt und Verletzungen in einer sehr distanzierten Art und Weise. Unter Umständen versucht er*sie sogar etwas „weg zu lachen". Jemand anderes spricht unter Umständen gar nicht wörtlich aus, worum es geht, aber in der Stimme ist die ganze Wucht zu spüren. Wenn ich so etwas feststelle, kann ich bei der anderen Person bleiben, aber auch die Aufmerksamkeit wieder auf mich selber lenken: Kenne ich solche Verhaltensweisen von mir selber? Wann setze ich sie ein? Mache ich das automatisch oder bewusst? Habe ich Alternativen?

Meinen Raum gestalten

In der Selbsthilfegruppe habe ich die Möglichkeit, von mir zu erzählen und Fragen zu formulieren. Ich selber bestimme dabei, was dabei mein Thema ist: Habe ich ein Problem heute, wo es mir in erster Linie um eine pragmatische Lösung geht? Denke ich, ich muss um das Problem zu lösen, die Fäden in meine Geschichte zurückverfolgen? Oder will ich mich einem Bruchstück meiner Vergangenheit nähern und es mir näher angucken?

Auch den Rahmen kann ich selber weitgehend gestalten: Je klarer ich habe, was ich möchte und benötige, desto eher bekomme ich es. Ich habe dann die Möglichkeit, den Anderen zu sagen, was ich mir wünsche - was natürlich nicht bedeutet, dass sie alles tun müssen, was ich will, sie entscheiden selber. Ich kann aber selber bestimmen, wie ich über etwas reden will, ob eher sachlich distanziert oder emotionaler. Ich kann mitteilen, ob ich die Anderen hauptsächlich als Zuhörer brauche, aber zu viel Angst habe vor Rückmeldungen und deshalb bitte keine erfolgen sollen, oder ob mir gerade die Erfahrungen anderer in ähnlichen Situationen wichtig sind. Ich kann sogar überlegen, wie ich den Raum im wörtlichen Sinne gestalten will und ob ich lieber hinter einem Sitzkissen geschützt reden will.

Grundsätzlich gilt für die Selbsthilfearbeit: Du selber bestimmst Dein Tempo. Es gibt keinen Zwang irgendetwas zu machen (außer natürlich die Grenzen der Anderen zu achten) erst Recht nicht irgendwelche Schritte zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer bestimmten Reihenfolge zu absolvieren. Ich bestimme selber, wann ich was erzählen will und wie ich den mir zur Verfügung stehenden Raum nutzen will oder auch nicht.

Für eine bewusste Gestaltung meines Raumes gibt es zahlreiche Hilfsmittel, die ich einsetzen kann. Dazu zählen z.B. Übungen aus der Selbsthilfearbeit (die auch einige Traumatherapeut*innen nutzen), wie wir einige auf einer Extraseite beschreiben. Eine weitere Möglichkeit ist es Erinnerungsstücke zu nutzen.

1. Erinnerungsstücke

Ein mitgebrachtes Foto - von mir als Kind, aus der Familie, mit dem*r Täter(*in) in drauf o.ä. - kann mir unter Umständen helfen, die Hemmschwelle zu überwinden, etwas aus meiner persönlichen Geschichte zu erzählen. Ähnliches ist auch mit anderen persönlichen Gegenständen denkbar: Mit einem alten Kuscheltier, einem Kinderbuch, einem Bild, einem Brief oder einem Tagebuchausschnitt.

Sinnvoll ist es, mir vorher zu überlegen, was ich erreichen will, das Erinnerungsstück danach auszusuchen und mich auf konkrete Fragen zu konzentrieren. Wenn ich z.B. über meine Gefühle zu Personen sprechen will, könnte eine Frage sein: Was lösen die auf dem Foto abgebildete/n Person/en bei mir aus? Wie war das damals und wie ist das heute? Wenn ich über Verletzungen und wie ich damals damit umgegangen bin, reden möchte, kann unter Umständen eben ein altes Kuscheltier, dem ich alles erzählt habe und das mich als Einziger getröstet hat, ein Einstieg sein.

Wichtig ist, sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren. Die Zeit an einem Abend ist begrenzt. Es kann hilfreich sein, vorher darüber in der Gruppe zu reden, wenn ich so etwas vorhabe, eventuell auch schon vorher festzulegen, wie viel Raum dafür nötig ist und welche Unterstützung mir die anderen geben können, damit ich am Schluss gut gehen kann. Wenn ich weiß, wie viel Raum ich habe, ist es auch leichter, mich zu beschränken, also z.B. mir nicht ein komplettes Fotoalbum anzugucken oder ein komplettes Tagebuch vorzulesen, sondern ein Bild oder einen prägnanten Ausschnitt auszuwählen. Und ich kann mir überlegen, wie ich die Reise in die Vergangenheit beenden will. Denn am Ende sollte ich gestärkt im Heute sein und nicht hilflos im Gestern.

2. Verschiedene Ausdrucksformen nutzen

Wenn ich feststelle, dass ich Schwierigkeiten habe, das, was in mir vorgeht in Worte zu fassen, kann ich mir überlegen, ob es andere Ausdrucksformen gibt. Unter Umständen ist es leichter mich mit einer Geste oder einer Körperhaltung auszudrücken, manche entdecken Geräusche als Möglichkeit. Für wieder andere ist Malen eine Art sich auszudrücken und sie bringen ein Bild mit. Bei all dem geht es nicht um irgendeine künstlerische Qualität, sondern wirklich darum, dem, was in mir passiert, einen Ausdruck zu verleihen. Nach solchen Möglichkeiten zu suchen kann auch dann sinnvoll sein, wenn ich etwas sonst überhaupt nicht aus mir heraus bekomme und immer mit mir alleine herum schleppe.

Gegenseitige Unterstützung

Bereitschaft zum Zuhören ohne sich selber zu verlieren

Eine Gruppe lebt von gegenseitigem Geben und Nehmen. Einmal erzähle ich und erfahre Unterstützung von den anderen, das nächste Mal ist es jemand anders.

Eine der Voraussetzungen dafür ist, sich zuzuhören. Das klingt banal, ist aber oft gar nicht so einfach. Gerade, wenn es um Themen geht, die mich selber stark berühren, ist es manchmal schwer still zu sitzen und nicht sofort zu reagieren. Auch kann es dann passieren, dass ich vorschnell denke, Bescheid zu wissen, weil mir das Erzählte bekannt vorkommt. Das kann sogar so weit gehen, dass ich glaube Dinge zu hören, die die andere Person gar nicht so gesagt hat. Deshalb ist eine Voraussetzung dafür, wirklich zuzuhören, dass ich meine eigene Geschichte von der der Anderen trennen kann. Dazu steht oben mehr. Es ist eine Balance, die ich finden muss und das ist am Anfang oft nicht so einfach: Eine Balance zwischen "mich selber spüren und auf mich achten" und "der anderen Person zuhören und sie mitzubekommen". Das klingt für manche vielleicht unmöglich, es ist aber etwas, was sich mit etwas Übung durchaus lernen lässt.

Auf dieser Grundlage habe ich dann die Möglichkeit, der anderen Person zu signalisieren, dass ich dabei bin und zuhöre. Das ist vor allem hilfreich, wenn jemand an einem vermutlich heiklen Punkt ist, verstummt oder plötzlich auf ein anderes Thema ausweicht. Blickkontakt, ein Nicken oder eine zustimmendes Geräusch signalisieren der anderen Person, dass ich noch dabei bin und bereit bin weiter zuzuhören. Sie ist nicht mit dem Thema alleine. Und das ist eine wichtige Gegenerfahrung zu dem, was früher erlebt wurde.

Eigene Erfahrungen anbieten

Eine der Möglichkeiten von einer Selbsthilfegruppe zu profitieren sind die unterschiedlichen Erfahrungen. Viele denken, eine Selbsthilfegruppe funktioniert deshalb, weil alle das Gleiche erlebt haben und gleich empfinden. Das stimmt so nicht: Natürlich ist es schwierig, wenn jemand gar nicht nachvollziehen kann, was ich erlebt habe. Aber die Person, die wirklichd das Gleiche genauso erlebt hat wie ich, kann mir nichts Neues sagen. Genau genommen funktioniert eine Gruppe also wegen der Unterschiedlichkeiten, die es trotz ähnlicher Erfahrungen gibt. Und diese unterschiedlichen Arten eine ähnliche Situation wahrzunehmen, die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die unterschiedlichen Versuche etwas zu ändern – die unterschiedlichen Erfahrungen also können wir uns gegenseitig zur Verfügung stellen. Nicht als Anweisung, wie jemand etwas zu machen hat, sondern als Bericht, so und so habe ich das gemacht. Dann kann die andere Person überlegen, ob das für sie auch eine Möglichkeit sein kann. Um Verletzungen und Zuschreibungen zu vermeiden, ist es dabei wichtig immer wieder deutlich zu machen, dass es meine Erfahrungen sind und dass die andere Person selber prüfen muss, ob sie für sie brauchbar sind.

Rückmeldungen: Wie nehme ich die andere Person wahr?

Rückmeldungen können unterschiedlich dicht bei mir oder bei dem anderen sein. Je klarer ich dabei habe, was meine eigene Geschichte ist (s.o.) desto geringer ist das Risiko, dass ich mit einer Rückmeldung anderen etwas überstülpe.

  • Ich kann der anderen Person erzählen, wie ich sie wahrgenommen habe: Wie hat sie gesprochen? Was ist mit dem Zusammenspiel von Inhalt, Emotionalität beim Erzählen, Körpersprache usw.? Dabei ist es gerade bei dieser Art der Rückmeldung wichtig, deutlich zu machen, dass es meine Wahrnehmung der anderen Person ist und nicht das, wie sie ist. Ich biete hier, genauso wie bei dem Erzählen eigener Erfahrungen eine Sichtweise an, die vom Gegenüber angenommen oder abgelehnt werden kann. Es ist hilfreich, statt „Du hast ... und dann hast Du..." zu sagen, zu fragen, ob die eigene Sicht mit der Selbstsicht übereinstimmt. „Ich hatte den Eindruck, dass du... und dann sah es für mich so aus, als ob Du ... . Stimmt das? Wie hast Du das selber erlebt?"
    Unter Umständen hat der andere das durchaus gezielt gemacht, z.B. eine scheinbar distanzierte grinsende Art des Erzählens von Angst und Wut gewählt, um nicht in die Gefühle abzukippen. Eventuell ist ihm das aber gar nicht bewusst gewesen und er bekommt durch die Rückmeldung eine Möglichkeit zu prüfen, wie es ihm ergangen ist.
  • Ich kann anderen mitteilen, was das Gehörte bei mir ausgelöst hat. Die Kunst dabei ist, nicht das Thema an mich zu reißen und mich selber in den Mittelpunkt zu schieben. Es kann aber für das Geegenüber sinnvoll sein z.B. zu erfahren, dass das Erzählte bei mir Ohnmachtsgefühle ausgelöst hat, denn dann kann er*sie sich überlegen, ob das bei ihm*ihr genauso gewesen ist oder anders. Das kann ein Hinweis sein, was mögliche Reaktionen auf die geschilderte Situation sein können. Je klarer ich dabei sage, was von dem bei mir Ausgelösten aus meiner eigenen Geschichte herrührt und was von dem Gehörten, desto nutzbringender ist meine Rückmeldung für die andere Person.
  • Wenn ich den Eindruck hatte, dass etwas bei mir stattgefunden hat, was mein Zuhören beeinträchtigt hat, kann ich auch das mitteilen. Das muss auch gar nichts mit dem Erzählten zu tun haben, ich teile es den anderen vor allem mit, damit sie Bescheid wissen und nicht denken, sie hätten irgendetwas falsch gemacht.

Rückmeldungen bergen die Gefahr, als Angriff oder Kritik empfunden zu werden. Das kann daran liegen, wie sie formuliert werden, es kann aber auch daran liegen, dass sie an wunde Punkte rühren. Hinweise und Rückmeldungen an andere sollten deshalb grundsätzlich Angebote sein, und so sollten sie auch formuliert sein. Und wenn ich auf meine Rückmeldung die Antwort bekomme, sie wäre als zuweisend erlebt worden oder als Unterstellung, ist es klug, nicht sofort darauf zu antworten, sondern - wenn ich möchte - die Situation im nächsten Gruppentreffen anzusprechen und zu fragen, wie eine Rückmeldung für die andere Person formuliert sein müsste, so dass es o.k. ist und annehmbar.

Umgang mit Konflikten

Konflikte in einer Selbsthilfegruppe sind normal. Es gibt sowohl Interessenskonflikte, bei denen es ansteht, die Interessen zu artikulieren und auszuhandeln, aber auch viele Konflikte aus Missverständnissen. Beides löst oft Angst aus und manche hoffen, so etwas würde in einer Selbsthilfegruppe nicht passieren.

Einigen wurde z.B. zu Hause als Kind die Rolle eines Schlichters zwischen den Eltern zugewiesen. Dann ist es eventuell schwer, nicht sofort vermittelnd einzugreifen, sondern den Anderen Zeit zu lassen, ihren Konflikt selber zu klären. Andere haben die Erfahrung gemacht, dass sie bestraft werden, wenn sie für ihre eigenen Interessen eintreten. Dritte mussten erleben, dass Konflikte in Gewalt eskaliert sind. Und wieder andere haben nicht gelernt Interessen auszuhandeln und die Interessen anderer zu sehen. All das sind Gründe, warum einige von uns konfliktscheu sind oder eigene Interessen nicht angemessen ins Verhältnis zu denen von anderen setzen können.

Die meisten Konflikte in Selbsthilfegruppen beruhen aber auf Missverständnissen: Viele Überlebende sexueller Gewalt haben "wunde Punkte": Sehr schnell fühlt sich die eine Person benutzt, sehr schnell vermutet eine andere einen Angriff auf das eigene Wahrnehmungsvermögen, viele fühlen sich von jemand anderem verletzt, obwohl das gar nicht beabsichtigt ware. Manche haben  nicht gelernt, so etwas zu sagen und dann zu klären, was das Gegenüber gemeint hatte. Viele "machen dicht" und "schlagen zurück"- Andere sind eher manipulativ, um sich durchzusetzen. Dazu kommt, dass Männer* eher gewohnt sind, andere Männer* als Konkurrenten oder als Rivalen zu begreifen und zu bekämpfen, anstatt einander zu helfen und sich zu unterstützen. Auch eine Selbsthilfegruppe von ehemaligen Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist nicht frei von (patriarchalen) Machtkämpfen.

Die Konflikte in einer Selbsthilfegruppe, seien es Interessenskonflikte oder Konflikte aus Missverständnissen, erleben viele Teilnehmende als Bedrohung. Sie sind aber gleichzeitig eine Riesenchance: Wo, wenn nicht in einer Gruppe, die klare Vereinbarungen hat, kann ich lernen nachzufragen, wenn ich mich verletzt fühle? Wo, wenn nicht unter Menschen, die wissen, wie schwer es ist zu reden, kann ich aushandeln, was die anderen noch machen können, um mir das zu erleichtern? Und ich kann jederzeit die anderen fragen, ob sie mir helfen, einen Konflikt anzusprechen oder ich kann mir einen Termin für eine Beratung bei Tauwetter holen.

Gerade in solchen Konflikten ist die Vereinbarung "Jede*r redet von sich" wichtig. Konflikte lassen sich bewältigen, wenn jede*r Einzelne bei sich bleibt und von den eigenen Gefühlen redet und nicht dem Gegenüber erklärt, was der*die gemacht hat. Es ist schwer, gerade dann, wenn ich mich angegriffen fühle und eigentlich alle Reflexe mir raten, keine Schwäche zu zeigen, zu sagen "Ich kann nicht mehr, mir tut das weh." Es ist schwer, den Schmerz zuzulassen und eventuell sogar zu weinen und damit vermeintlich angreifbar zu werden. Aber es ist der Weg der Verständigung und der Empathie für einander. Manchmal geht so etwas nur mit Abstand. Während die Wogen hoch hergehen, ist es nur möglich Stopp zu sagen, auszusteigen und sich zu vertagen. Das ist o.k. Ihr könnt dann z.B. ein Mitglied des tauwetter-Kollektivs darum bitten zu einem Treffen zur Gruppe zukommen.

Bei vielen ist das starke Gefühl nach einer Verletzung Aggression und Wut. Dahinter verbirgt sich oft Angst, Schmerz und Traurigkeit. Wenn ich es schaffe, das offen zu machen, unterbreche ich die Spirale. Mein Gegenüber fühlt sich nicht mehr bedroht und hat so die Möglichkeit zu reflektieren, ob es wirklich beabsichtigt hat, mich zu verletzen. Das ist für ihn*sie nicht einfach, aber so wird es möglich, unbeabsichtigte Verletzungen zu erkennen. Und wenn das stimmt, wird es auch möglich auszudrücken, dass mir das leid tut.

Manchmal stellt sich heraus, dass sich einer oder auch beide, nicht miteinander, sondern eher mit einem Gegner oder einer Gegnerin aus der Vergangenheit gestritten haben. Die Einzelnen erfahren dann unter Umständen mehr über sich selber und können anfangen, besser für sich zu sorgen.

Eine Selbsthilfegruppe kann und soll ein Raum sein, in dem sich mit Toleranz und Respekt begegnet wird. Unterschiedlichkeiten sind normal, jede*r hat einen eigenen Weg. Wenn es gut läuft, bietet eine Gruppe die Chance, gerade von den Unterschieden zu lernen und auch zu lernen, mit Widersprüchen produktiv umzugehen, konfliktfähiger zu werden.

Wir wünschen Euch, dass das in Eurer Gruppe so sein wird.

 Letzter Eintrag 25.1.2024

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