tauwetter print logo

Anlaufstelle, für Männer* und TIN*, die in Kindheit, Jugend oder als Erwachsene sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren

© 2015 Tauwetter e.V.

Ich bin 1940 in Berlin geboren. An meine Kindheit kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. An die Zeit vor meinem 4 ½ Lebensjahr habe ich überhaupt keine Erinnerung. Meine Mutter sagte, ich sei immer ein "ruhiges" und "freundliches" Kind gewesen. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals unfolgsam oder wütend gewesen zu sein. Ich war stets in mich gekehrt und zurückhaltend, auch gegenüber gleichaltrigen Kindern. Ich spielte zwar gern mit ihnen, hatte aber panische Angst vor körperlicher Gewalt und konnte mich nicht wehren selbst gegen Kinder, die einen Kopf kleiner waren als ich selbst (meine fünf Jahre ältere Schwester beschützte mich oft).

Mit knapp 6 Jahren wurde ich eingeschult. Auf dem Weg zur Schule, am ersten Schultag, machte ich mir in die Hosen. Ich sehe noch heute, wie die Wurst aus der Hose fällt und wie peinlich es mir vor den anderen Kindern ist. Von meiner Mutter weiß ich, dass ich bis zum 7. Lebensjahr Bettnässer war.

Meine Mutter erzählte mir später, dass sie seit meiner Geburt nicht mehr mit meinem Vater schlief. Da war sie 37 Jahre alt. 1943 werden wir - meine Mutter, meine Schwester und ich - aufs Land evakuiert, wo wir auf engstem Raum zusammenleben. 1945 kehren wir nach Berlin zurück. Auch mein Vater kehrt aus der Kriegsgefangenschaft heim. Wir schlafen zu viert in einem Zimmer. Meine Mutter lehnt es ab, mit meinen Vater in einem Bett zu schlafen. Sie will uns Kinder bei sich haben, und so nehmen wir seinen Platz ein. Ich schlafe mit meiner Mutter und meiner Schwester die folgenden drei Jahre in einem Bett, während mein Vater an der gegenüberliegenden Wandseite schläft. Ich kann mich an diese Zeit nicht erinnern. Dass ich vom fünften bis achten Jahr im Bett meiner Mutter geschlafen habe, erfahre ich zufällig von meiner Schwester. Warum kann ich mich an nichts erinnern? Ich bin mir heute sicher, weil ich in all diesen Jahren von meiner Mutter sexuell Missbraucht wurde.

Ich habe gefühlsmäßige Erinnerungen an den Missbrauch, auch Gefühlsbilder, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Ich hatte auch sexuelle Träume mit meiner Mutter (darunter einen schrecklichen Alptraum). Aber ich habe keine bewusste Erinnerung. Vielleicht ist das der Grund, weshalb es mir manchmal schwerfällt, den Missbrauch als etwas Geschehenes anzusehen, obgleich er mein Leben so schwer geschädigt hat. Ich habe immer unter einer Glasglocke gelebt, aus Angst vor Verletzungen. Ich bin mir sicher, dass ich unter diese Glasglocke schon in meinem ersten Lebensjahr gekrochen bin, als Schutz vor meiner Mutter. Anders hätte ich vielleicht nicht überlebt. Seit einigen Jahren leide ich unter einer psychisch bedingten Schwerhörigkeit und trage ein Hörgerät. Sie ist ein erneuter, unbewusster Versuch, mich von der Außenwelt zurückzuziehen, "nichts mehr hören zu wollen", um nicht mehr verletzbar zu sein.
Andererseits vermute ich heute, dass ich den körperlichen Missbrauch auch als große Nähe zu meiner Mutter erlebte. Und dass ich spürte, dass ich ihre intensive Zuwendung nur verbunden mit ihrer körperlichen Erregung erhalten konnte.

Mein Leben lang habe ich unter schweren Depressionen, einem chronischen Schnupfen, Schlaf- und zeitweilig auch Essstörungen gelitten. Dennoch hätte ich nie eine Therapie angefangen, weil ich glaubte, mit meinen Problemen alleine fertig werden zu müssen. Mit 52 Jahren bekam ich massive Potenzstörungen und zunehmend Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Der drohende Verlust der Sexualität versetzte mich in Panik. Ein Leben ohne Sexualität konnte ich mir nicht vorstellen, weil sie für mich der einzige Weg war, mich zu spüren und Gefühle wie Zuneigung und Nähe zu bekommen. Ich trug mich mit Selbstmordgedanken. Nach längerem Zögern entschloss ich mich endlich, mit einer Gruppentherapie zu beginnen. Nach etwa zwei Jahren sagte mir die Therapeutin, dass ich bereits im ersten Lebensjahr von meiner Mutter sexuell benutzt worden sein muss, und dass der Missbrauch vermutlich über einen langen Zeitraum hinweg stattgefunden hat. Ich konnte es gar nicht glauben, aber sie sagte, das sei keine Spekulation. Auch die anderen Gruppenteilnehmer versicherten mir, dass es für sie keinen Zweifel an meinem Missbrauch gäbe. Heute bin ich überzeugt, dass er dauerte, bis ich etwa 8 war.

Unter Bekannten galt meine Mutter als eine gebildete, einfühlsame und warmherzige Frau. Viele meiner Freundinnen beneideten mich um sie. Als Kinderschänderin konnte ich sie mir überhaupt nicht vorstellen. Dazu erschien sie mir viel zu "mütterlich". Das hat sie mir auch stets vermittelt. In unserem Wohnzimmer hing ein großes Bild der Jungfrau Maria mit dem Kind. Obwohl meine Mutter nicht gläubig war, erwähnte sie dies Bild mir gegenüber häufig. Die Madonna mit dem Kind auf dem Arm sei für sie der Inbegriff des Frau-Seins. Sie selbst habe den Sinn ihres Lebens nur in der Mutterschaft gesehen. "Ich habe ja nur für meine Kinder gelebt", sagte sie manchmal. Ohne uns Kinder würde sie nicht leben wollen. "Ich brauche dich, Mütterchen braucht dich", sagte sie oft zu mir. Ich hatte immer eine enge Bindung zu ihr. Bis zu meinem 53. Jahr besuchte ich sie einmal in der Woche und telefonierte fast täglich mit ihr. Ich weiß heute, dass es zwischen uns eine stark sexualisierte Ebene gab, die sich bei ihr im Tonfall, den Blicken und der ganzen Körpersprache ausdrückte. Ich meinerseits spielte die Rolle des Ersatzehemannes (meinen Vater hielt sie für "infantil" und nannte ihn manchmal ihr "drittes Kind"). Sie sagte mir häufig, was für ein schöner Mann ich sei und dass sie, wenn sie ein junges Mädchen wäre, sich sofort in mich verlieben würde. Oder dass sie sich so einen Mann wie mich immer zum Ehemann gewünscht hätte. Einmal sagte sie: "Du bist der einzige Mann, von dem ich geliebt werden will." Dabei blickte sie mich immer ganz verzückt an. Und mir gefiel das.
Sie interessierte sich stets für meine Bettgeschichten. Ob die Frau einen Orgasmus hätte oder nicht - wenn nein, warum nicht -, in welcher Stellung wir schliefen etc. Ich sprach mit ihr offen darüber, obwohl es mir manchmal unangenehm war. Einmal fragte sie auch, ob meine (damalige) Frau beim Schlafen mit mir einen Orgasmus hätte. Als ich verneinte, stellte sie sie unter vier Augen zur Rede: wieso sie keinen Orgasmus bekäme? Meine Frau war gerade beim Geschirrspülen und schmiss vor Wut die Teller an die Wand. Ich empfand das Verhalten meiner Mutter aber eher als übertriebene Fürsorge und stellte mich insgeheim auf ihre Seite.

Als ich die Pubertät erreichte, ich war 14 ½ Jahre, versank ich schlagartig in tiefe Depression. Manchmal, wenn ich allein zu Hause war, steckte ich den Kopf in den Backofen und versuchte, mich mit Gas zu betäuben. Zur gleichen Zeit begann ich suchtartig zu masturbieren. Ich tat dies mehrmals täglich im Badezimmer, dessen Tür eine große geriffelte Glasscheibe hatte. Meine Mutter muss mich häufig durch diese Scheibe beobachtet haben, denn als ich etwa 16 war sprach sie mich darauf an. Sie mache sich Sorgen, dass ich mich zu sehr auf das Onanieren fixieren würde und später kein Interesse mehr an Frauen hätte. Mir war die Situation peinlich, und ich überlegte, ob sie wohl recht hätte, da ich ja nach wie vor darauf versessen war, mit einer Frau zu schlafen. Gemeinsam überlegten wir, was zu tun wäre. Schließlich schlug sie mir eine "erfahrene" Frau aus ihrem Bekanntenkreis vor, die so um die 50 war, also etwa in ihrem Alter. Ich wollte aber nicht, weil mir diese Frau zu kalt und hart war.

Mit 19 hatte ich meine erste Freundin. Ich wohnte noch bei meinen Eltern, hatte aber ein kleines Zimmer für mich allein. Meine Freundin blieb meist über Nacht. Da ich in meinem Zimmer keinen Plattenspieler hatte, besorgte ich einen kleinen Lautsprecher und verband ihn über ein Kabel mit der Musikanlage im Wohnzimmer. Wenn ich mit meiner Freundin im Zimmer allein war, legte meine Mutter im anderen Zimmer Schallplatten auf, immer klassische Musik. Wir hörten dann die Musik, während wir schmusten oder miteinander schliefen. Ich überließ es meiner Mutter, die passende Musik auszusuchen, manchmal entschieden wir auch zusammen. Morgens frühstückten wir gemeinsam.

Einmal hätte ich sie beinahe umgebracht. Ich war etwa 15 Jahre alt. Sie lag im Bett und las ein Buch. Ihr Nachthemd war nicht zugeknöpft, so dass ein Teil ihres Busens freilag. Ich starrte auf ihren Busenansatz und verspürte plötzlich den Zwang, aus der Küche ein Messer zu holen und es ihr zwischen die Brüste zu stechen. Der Zwang wurde so stark, dass ich Angst bekam, die Kontrolle über mich zu verlieren. Ich stand wie gelähmt da und dachte, ich sei verrückt geworden. Mit größter Anstrengung gelang es mir, das Zimmer zu verlassen und mich zu beruhigen. Später erfuhr ich in der Therapie, dass es sich hier um eine Abspaltung von Aggressionen handelte.

Mein Leben war beruflich und privat eine Katastrophe. Hinter mir liegen zwei gescheiterte Ehen. Für einen Beruf habe ich mich nie interessiert. Bis auf eine Ausnahme vermied ich es stets, eine feste Stelle anzunehmen, denn jede Art von Bindung machte mir Angst. Freundschaften zu Männern interessierten mich nicht. Sonstige soziale Kontakte hatte ich auch nicht. Nur auf Frauen und Sexualität war ich geradezu fixiert. Wenn eine Frau nach dem zweiten Treffen nicht mit mir schlafen wollte, fühlte ich mich nicht geliebt und war nicht mehr an ihr interessiert. Die Beziehungen zu allen Frauen waren äußerst destruktiv (bis auf die zu meiner jetzigen langjährigen Freundin, weshalb ich vermutlich erst bei ihr - wegen der zu ihr entstandenen Nähe - meine sexuellen Probleme bekam). Schon am Anfang stand für mich fest, dass ich mich früher oder später von ihnen trennen würde. Das verschaffte mir eine innere Distanz. Zunächst erfüllte ich fast alle ihre Erwartungen, um ihre volle Zuwendung zu erhalten. Aber innerlich hasste ich sie für diese Anpassungsleistung und freute mich auf ihren Schmerz, wenn ich sie plötzlich verlassen würde. Das war meine Rache. Ich weiß jetzt, dass ich mich an ihnen stellvertretend für meine Mutter, von der ich mich nicht lösen konnte, rächte.

Meine Mutter konnte ich erst im Alter von 53 Jahren "verlassen", noch bevor ich von dem Missbrauch wusste. Ich hatte ein Jahr zuvor mit der Therapie begonnen und mir war klargeworden, dass sie mich bisher nur in der Rolle des Ersatzehemannes geliebt hatte, nie um meiner selbst willen. Ich fühlte mich zutiefst betrogen und wollte diese falsche Liebe nicht länger haben. Ich sehnte mich nach einer wirklichen Nähe zu ihr und wollte von ihr so, wie ich war, angenommen werden und nicht um einer äußeren Fassade willen. Nach ihrer Vorstellung sollte ein Mann entschieden, stark, unnahbar sein und so hatte sie versucht, mich zu äußerster Härte gegen mich selbst und zu absoluter Selbstbeherrschung zu erziehen. Der Gedanke, mich ihr von einer anderen Seite zu zeigen, auch mit den von ihr verachteten "weichen" Gefühlen, machte mir Angst. Trotzdem entschloss ich mich, mit ihr zu reden.

Ich sprach zu ihr über meine Einsamkeit in der Kindheit, über mein starres Selbstbild als Erwachsener und meine Unfähigkeit, spontan zu sein. Ich erzählte ihr von der inneren Glaswand, die mich von den Menschen trennte und von der lähmenden Traurigkeit in meinem Leben. Ich sagte ihr, dass ich nicht weinen könne. Sie hörte unwillig zu und sagte: "Sollte ich dich denn weich und weibisch erziehen?". Sie empfand mich jetzt als "unmännlich", womit auch die erotische Ebene zu mir entfiel. Es entstand eine Leere zwischen uns, ein Ausmaß an Fremdheit, das bisher durch mein Rollenspiel immer verdeckt gewesen war. Ich war maßlos enttäuscht. Ich sah sie nie wieder. Die Trennung von ihr bedeutete nicht, dass ich mich innerlich von ihr gelöst hatte. Aber ich hatte es geschafft, mich in einem ersten Schritt von ihr zu befreien. Meine Hass- und Rachegefühle waren ungleich stärker als meine Schuldgefühle. Sie starb zwei Jahre später. Als sie im Sterben lag, wollte sie mich noch einmal sehen. Aber ich besuchte sie nicht. Es hat mich tief befriedigt, ihr diesen letzten Wunsch nicht zu erfüllen. Ich ging auch nicht zu ihrer Beerdigung und habe ihr Grab nur einmal besucht. Ich trauerte nicht um sie, sondern um meine Kindheit und den Verlust einer Illusion.

Nach fünf Jahren Gruppentherapie (einmal in der Woche) hatte ich immer noch meine sexuellen Störungen. Meine Therapeutin meinte, ich könnte die Macht meiner Mutter nur brechen, wenn ich meine "Energien" nach außen lenken würde. Ich versuchte das auch, mit der Folge, dass ich plötzlich kurz nacheinander zwei Harnwegentzündungen bekam. Ich fiel in tiefe Resignation, beendete die Therapie und ging in eine Selbsthilfegruppe von Tauwetter, in der ich noch heute bin.

Ich glaube, es ist mir bisher nicht gelungen, Zugang zu meinen Gefühlen zu bekommen. Ich lebe mit einer Fassade, dahinter ist nur Leere. Ich habe wieder mit einer Therapie begonnen, weil Sexualität für mich immer noch mit Angst verbunden ist und ich Sex nur nach bestimmten Regeln haben kann. Der Kampf gegen meine Mutter geht weiter.

Juli 1999

Ich beendete die Therapie nach 25 Stunden, weil ich immer depressiver wurde. Ich habe angefangen, mich mit Rasierklingen zu schneiden. Zur Zeit nehme ich noch Medikamente ein.

Juni 2000
Helge

Adresse

Tauwetter e.V.
Gneisenaustr. 2a  
10961 Berlin
030 - 693 80 07

Sprachwahl

Ihre Sprachauswahl

icons-sprache-smileicon gebaerdensprache
 
Logo Siwecos
Cookie Hinweis

Diese Webseite verwendet Cookies, um Ihnen ein optimiertes Webangebot anbieten zu können. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.